Regen

Sie hörte es schon im Bett. Es regnete. Es war nicht nur das Rauschen des Windes in den riesigen Buchen, es war ganz eindeutig Regen, ein sanfter Regen. Die Tropfen schlugen nicht gegen die Scheiben, sondern fielen gerade herunter auf das frische Gras und die frühjahrswarme Erde. Als sie in die Küche kam und durch die Sprossenfenster nach draußen sah, war es gar nicht so düster, wie sie befürchtet hatte. Im Gegenteil, der silberne Himmel, aus dem immer noch stetig dicke, runde Tropfen fielen, schien wie von oben beleuchtet. Das Licht war eigenartig hell und warm. Sie begann, den Tisch zu decken und den Tee vorzubereiten. Nach kurzem Überlegen entschied sie sich für einen „Earl Grey“. Beim Öffnen der Teedose stieg ihr der feine Geruch der Teeblätter verbunden mit dem Bergamottöl in die Nase. Die scharfe Zwiebel, die sie für die Avocado schnitt, passte nicht so recht dazu aber, vermischt mit dem fetten Fruchtmus, ergab sich ein Duft der ihr das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ. Dann stellte sie Milch und Zucker auf den Tisch vor dem Fenster. Bei dem Gedanken an das tropische Aroma des braunen Zuckers freute sie sich auf die erste Tasse Tee. Dazu die Semmeln aus dem Ofen, mit denen sich Wärme und eine mehlige Frische im ganzen Raum verteilte. Sie stieß das Fenster auf. Die Flügel öffneten sich weit nach außen und herein drang Regenluft.

Das war kein Regen der tagelang anhalten würde bis es kein trockenes Fleckchen mehr gab. Dieser Regen roch nach Frühling, nach Wachstum, nach Aufbruch. Die schweren Tropfen massierten die Blätter und Blüten der Linden. Einzelne Blüten schwebten durch die Luft. Es schien, als tanzten sie mit den silbrigen Kugeln die vom Himmel fielen. Von der Straße am Ende der Auffahrt stieg Nässe auf und hüllte den Straßenrand in einen Schleier. Deutlich meinte sie, den nassen Teer zu riechen. Auch die Erde dampfte. Der Atem des tropfenden Grases und das Aroma der wilden Kräuter wurde übertönt vom Duft der Lindenblüten. Alles war darin eingehüllt. Diese süße Schwere, die schon den Sommer ahnen ließ, durchbrochen und verstärkt vom Regen.

Regen, Regen!

Sie setzte sich und schenkte sich Tee ein. Was konnte an einem Tag, der so begann, noch schiefgehen?